Vergessene Orte (5): Das Eisenbahnerheim

Majestätisch gelegen erblickt man vom Hugenottenturm aus hoch auf dem Brandenberg das ehemalige Eisenbahner-Erholungsheim. Nimmt man jedoch ein Fernglas oder geht man den Weg den Triftweg hinauf, so bekommt man einen ganz anderen Eindruck: Ein undichtes Dach, zerschlagene Scheiben, von der Wand blätternder Putz – Verfall, wohin man auch schaut. Das einst parkartige Grundstück ist heute ein ungepflegtes und überwuchertes Pferdegatter – hier wenigstens noch eine sinnvolle Nutzung. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann das denkmalgeschützte Gebäude endgültig aufgegeben und abgerissen wird. Nachdem es einst als Erholungsheim für die Eisenbahner und später für deren Frauen sowie als Lazarett in zwei Weltkriegen und als Massenunterkunft für Asylbewerber diente, ist es heute nur noch ein Unterschlupf für die zahlreichen im Reinhardswald heimischen Waschbären und ein Abenteuerspielplatz von Freunden von Lost Places.

Dieser Blogbeitrag beleuchtet die Entstehungsgeschichte des immer noch so stattlichen Gebäudes.

Wettbewerb um den Standort

Die Ansiedlung eines Erholungsheimes für Mitarbeiter der Eisenbahn war 1908 ein attraktives Projekt für die hessischen Städten und Gemeinden. Daher haben sich damals nicht weniger als 56 Städte und Städtchen Hessens und der Nachbarprovinzen dafür beworben. Dass das rund ein Hektar große Areal hoch über Karlshafen den Zuschlag bekommen hat, lag

    • an seiner unmittelbarer Nähe zum Solbadestädtchen,
    • an seiner Höhenlage,
    • der parkähnlichen Grundstücke in seiner unmittelbaren Nähe,
    • den windschutzbietenden Waldanlagen sowie
    • daran, „dass die Stadt und ihre weitere Umgebung ganz die Eigenschaft besaßen, die der Freund eines ruhigen Urlaubs von einer ersprießlichen Sommerfrische verlangt.“

Mit dem Erdaushub für die Grundmauern wurde am 1. März 1909 begonnen, die Einweihung des Hauses und gleichzeitig der Einzug der ersten Gäste fand am 11. Juni 1910 statt.

 

Das Gebäude

Auszug aus dem Fachbeitrag „Erholungsheim für Eisenbahnbeamte in Karlshafen an der Weser“:

„Seiner Bestimmung und Lage entsprechend hat das Erholungsheim im Äußeren ein landhausmäßiges Gepräge erhalten. Die gestreckte Front des dreigeschossigen, mit Knickdach abgedeckten Einflügelbaues, die durch die einseitige Lage der nach dem Tale zu angeordneten Zimmer bedingt war, wird durch drei Giebel belebt, die in ihrer Gleichheit so die im Städtchen herrschende Symmetrie anklingen. Abgesehen von diesen drei Dachausbauten, die wie die ganze Mansarde für Wohnzwecke ausgenutzt sind, besitzt die auf Fernwirkung berechnete Hauptseite als Gliederung nur eine Galerie kurzer Säulen, welche die durchgehenden Balkone des ersten Stockwerks abschließen und die schützenden Giebel tragen.

Den über eine Außentreppe zugänglichen, mit einem Freisitz versehenen Haupteingang deckt ein auf Pfeilern ruhendes Vordach. Auf der Hinterfront wiederholt sich der Dreiklang der mit ihren Firsten durchgeführten Giebel, so zwar, daß der Mittelgiebel, der das Haupttreppenhaus einschließt, in unveränderter Breite beibehalten ist, während die Nebengiebel, die auf der einen Seite Gast- und Wirtschaftsräume, auf der anderen Seite die Abortanlagen enthalten, schmaler ausgefallen sind.

Werkstein, meist nur bruchrecht bearbeitet, ist lediglich für den Sockel und die Türumrahmungen verwandt. Die Frontflächen sind, soweit sie aus Mauerwerk bestehen, rauh geputzt und gelblich getönt, soweit sie als Fachwerk ausgebildet sind, mit Schindeln oder Pfannen bekleidet. Mit letzterem, bei den Sachsenhäusern des Diemeltales üblichen Baumittel ist auch das Dach eingedeckt. Dachüberstände und Fenster haben weißen, die Außentüren stahlblauen, die Fensterläden und Weinspaliere grünen Anstrich erhalten. Durch Malerei und Bildhauerarbeit sind in bescheidenen Grenzen die Außeneingänge betont.

Das Heim enthält 33 Fremdenzimmer mit 49 Betten, davon 19 Zimmer mit einem, zwölf Zimmer mit zwei und zwei Zimmer mit drei Betten. Die Gesellschaftsräume, die einen Speisesaal von 60,50 Quadratmeter Grundfläche mit zugehörigem Schenkraum, ein kleineres Esszimmer und einen Unterhaltungsraum umfassen, liegen im Erdgeschoß in unmittelbarer Nähe des Haupteinganges und des Treppenhauses. Die sich anschließende, nach der Hinterfront gelegene Kleiderablage, die als kleine Vordiele gedacht und mit Sitzgelegenheit versehen ist, nimmt im Obergeschoß einen offenen Balkon auf, der zum Lüften der Betten dient. Rechts und links von der Eingangshalle befinden sich der Geschäftsraum und die beiden Wohnzimmer der Verwalterin. Die Wohnung des Gärtners und die Räume für die Dienstboten liegen im westlichen, die Küchenanlage und die Ladeeinrichtung im östlichen Teile des Sockelgeschosses. Der Dachboden enthält Waschküche und Trockenräume.

Das Gebäude ist mit Niederdruckdampfheizung, Gasbeleuchtung und Wasserleitung versehen, welch letztere wegen des geringen Druckes des Zuflussstranges ein Sammelbecken mit Motorbedienung erhalten mußte. Für die Abwässer machte der Mangel einer Kanalisation die Anlage einer Senkgrube nach dem biologischen Verfahren notwendig.“

 

Die Außenanlagen

Auszug aus dem Fachbeitrag „Erholungsheim für Eisenbahnbeamte in Karlshafen an der Weser“:

„Mit dem Gebäude ist eine geräumige, aus dem Erdaushube der Baugrube aufgeschüttete Terrasse verbunden, die mit Linden bepflanzt und an den Vorderecken mit gedeckten Freisitzen versehen ist. Von einer Rasenfläche vor der Hauptfront des Gebäudes abgesehen, ist der 60 Ar große Garten für Obst- und Gemüsebau ausgenutzt. Das dreieckig geformte Grundstück, das an der Vorderspitze eine Kastanienpflanzung besitzt, war von Anfang an von einer Trockenmauer von Bruchsteinen eingefaßt, die an einzelnen Stellen nur ergänzt zu werden brauchte, um eine ebenso dauerhafte wie vornehme Umwehrung abzugeben.“

 

Weitere Fakten

    • Eröffnung: 11. Juni 1910.
    • Baukosten: 120 000 Mark.
    • Einheitspreis pro Kubikmeter umbauten Raum: 18 Mark.
    • „Innere Einrichtung“: 24 000 Mark (+ Spenden von Vereinen und Privatpersonen).
    • Instandsetzung des Grundstücks: 6 000 Mark.
    • Möbel: Die notwendigen Möbel wurden nach Zeichnung der Bauverwaltung angefertigt beziehungsweise in den Paderborner Werkstätten nach Entwürfen von Max Heiderich oder in den Kasseler Werkstätten nach Zeichnungen von A. Nübel hergestellt.

 

Weitere Nutzung

Das Eisenbahnerheim diente dreimal als Massenunterkunft:

    • Als Lazarett im Ersten Weltkrieg (siehe Postkarte mit Poststempel 21. Dezember 1914),
    • als deutsche Eisenbahner 1923 im Moselgebiet während der französischen Ruhrbesetzung gestreikt hatten und aus Sicherheitsgründen evakuiert werden mussten sowie
    • im Zweiten Weltkrieg, als das Eisenbahnerheim zunächst evakuierte Saarländer, dann Bombengeschädigte und letztlich erneut Verwundete aufnahm.

Ich kenne das Heim aus meiner Kindheit in der 70er Jahren nur noch als Erholungsheim für die Eisenbahnerfrauen.

Ende der 80er Jahre war das Eisenbahnerheim erneut Massenunterkunft, diesmal für Asylbewerber. Anschließend wurde das Gebäude vom heutigen Besitzer aufgegeben. Alle weiteren Pläne, das Gebäude einer Nutzung zuzuführen, scheiterten.

Heute gibt es einen Plan von der La Patria Bad Karlshafen GmbH für eine neue Wohnungsbebauung am Eisenbahnerheim.

 

Quellen und zum Weiterlesen

Holtmeyer: „Erholungsheim für Eisenbahnbeamte in Karlshafen an der Weser“, Zentralblatt der Bauverwaltung, 31. Jahrgang, 1911, Nichtamtlicher Teil, Seite 473-477, Ministerium der öffentlichen Arbeiten, Berlin.

Bohn, Robert (2000): 1699-1999 Karlshafen – Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Hessischen Planstadt aus der Barockzeit, Reihe ‚Beiträge zur Geschichte der Stadt Karlshafen und des Weser-Diemel-Gebiets‘, Band 11, Verlag des Antiquariats Bernhard Schäfer, Bad Karlshafen.

Wikipedia

Eine Antwort auf „Vergessene Orte (5): Das Eisenbahnerheim“

  1. Dieser lesenswerte Beitrag zur Geschichte des ehemaligen Eisenbahner – Erholungsheimes hat mir doch zwei Dinge als wirklich bemerkenswert erscheinen lassen: zum einen der Baupreis des Objekts, der trotz der Bewertung der damaligen Reichsmark mit dem heute etwa 15fachen Euroäquivalent und der umgesetzten baulichen Projektierungen immer noch einen geradezu unglaublichen Vorgang darstellt, an den anzuknüpfen in heutigen Zeiten ein Ding der Unmöglichkeit wäre ( die Gründe für die gegenwärtigen Unzulänglichkeiten mag jeder selbst für sich ermessen) und die Weitsicht der Bauherren, denen heute nur noch Plan – und Konzeptionslosigkeit gegenüber steht. Wenn man des Weiteren in Erwägung zieht, daß der Bau in gerade einem Jahr abgeschlossen wurde – ein Zeitraum, den heutzutage günstigstenfalls Vorplanungen einnehmen – dann mag man ermessen, in welcher Weise sich die Baukunst entwickelt hat.

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