Ich denke, fast alle Kinder aus Karlshafen haben eine schöne Erinnerung an das Friedenstal am Rand des immergrünen Sollings. Wir haben dort gespielt, Dämme gebaut und wieder eingerissen, Hütten gebaut und als Pfadfinder das Terrain erkundet. Doch auch die Erwachsenen schätzten dieses liebliche Tal als Oase der Ruhe – wenn nicht gerade spielende Kinder lautstark durch das lustvolle Einreißen eines Dammes die nächste Flutkatastrophe für den kleinen Eisenbahntunnel auslösten. Es war ja auch ein Ruhe- und Rastpunkt von Generationen von Wanderern – schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts.
In mehreren Blogfolgen möchte ich Ihnen Geschichten über das Friedenstal erzählen. Die ersten beiden Kurzgeschichten behandeln die glückliche Vergangenheit, an die sich viele von uns noch gerne erinnern. Heute geht es eine unangenehme Überraschung für Kurgäste aus dem Eisenbahnerheim, die auf einer kleinen Wanderung durch den Solling auch durch das Friedenstal wandern möchten.
Sollten Sie besondere Erinnerungen an das Friedenstal haben, so lassen Sie mich gerne an Ihnen teilhaben. Erzählen Sie mir und uns davon, vielleicht haben Sie auch noch schöne Fotos oder Postkarten. Es wäre schade, wenn das Friedenstal, welches sich heute in einem erbarmungswürdigen Zustand befindet, noch weiter in Vergessenheit geriete. Und nun viel Spaß mit der exklusiven Kurzgeschichte „Dammbruch!“!
Dammbruch!
Ein lauter Käuzchenruf erschallte, das war das Zeichen. In der dichtbelaubten Eiche und in sicher zehn Meter Höhe war Peter nicht zu erkennen. Das war auch gut so, denn hätten man ihn dort oben wahrgenommen, hätte keine Chance gehabt, zu entfliehen.
Den ganzen Morgen hatten sie an ihrem Damm gearbeitet. Es war ein heißer Tag, so dass sie zwischendurch immer mal wieder die Chance nutzten, ganz in das kalte Wasser des künstlich geschaffenen Bassins einzutauchen. Die meiste Zeit liefen sie sowieso mit freien Oberkörper herum, die T-Shirts lagen wild über die Lehne der Bank geworfen, ebenso die Schuhe, die unter der Bank standen. Am besten ließ es sich bei diesem tollen Wetter in kurzer Hose arbeiten.
Die Ferrisgründler, das waren je nach Zählweise fünf bis sieben Jungen aus der Gartenstadt, die auch in die selbe Volksschulklasse gingen – Mädchen war bei ihnen nicht zugelassen. Das diese ihnen die Ausgrenzung übel nahmen, wussten sie spätestens, seitdem ihnen die Mädels aus der Winnefelder einmal die Klamotten geklaut hatten und auf die Schienen gelegt hatten. Der Lokführer des D-Zugs Göttingen – Düsseldorf musste eine Notbremsung machen und sogar ein Wachtmeister tauchte später noch im Friedenstal auf.
Die Engstelle im Bach des Friedenstals bestand nun nicht mehr. An ihrer Stelle staute ein wilder Knüppeldamm das spärlich, jedoch regelmäßig fließende Wasser des kleinen Baches auf, der durch das Friedenstal floss. Verstärkt wurde das jugendliche Ingenieurswerk durch nicht leicht transportierende Steine bachaufwärts. Das Ganze war sowohl schon recht durchdacht, als auch tückisch – mit dem mechanisch zu betätigenden Auslöser einer steuerbaren künstlichen Umweltkatastrophe in seiner Konstruktion. Einfach gesagt gab es einen tragenden Ast, der, mit Kraft herausgezogen, den gesamten Damm zu zerstören vermochte, um das aufgestaute Wasser mit einem Mal abfließen zu lassen.
Dieser Augenblick stand gerade unmittelbar bevor. Peter hat ihnen das Vorwarnsignal gegeben, gleich würde ein zweites Käuzchen den Moment der gewollten Zerstörung anzeigen. Andreas und Matthias standen schon bereit, Karsten, Hans und Werner hatten sich bereits den Hang hinauf zurückgezogen, an einen Platz, von dem aus man das bevorstehende Schauspiel optimal würde beobachten können. Stille – nur das Rauschen des Bachs lieferte eine liebliche Hintergrundbeschallung. Nicht alle der Jungen hatten sich versteckt: Thorsten und Günther, die beiden schnellsten Läufer, stand am Rand des in mehrstündiger Arbeit aufgeschichteten Dammes und warteten konzentriert auf das zweite Käuzchen. Doch der Ruf blieb aus – dafür hörten die beiden Hauptdarsteller des bevorstehenden Tragikomödie lautes Männerlachen. Okay, das würden vermutlich die Eisenbahner aus dem Erholungsheim am Triftweg sein. Die taten immer so lustig, wenn sie in einem der Cafés in der Stadt ihren Kaffee tranken. Es würde heute nicht das erste Mal sein, dass ihr Ausflug in den Solling buchstäblich ins Wasser fallen würde.
„Huh-huhhuh“ – da kam er, der zweite Käuzchenruf. Sogleich begannen Thorsten und Günther, an dem Ast zu zerren – doch zu ihrem Ärger bewegte es sich kaum. Der Plan war, den Stecken innerhalb von dreißig Sekunden heraus zuziehen – alles weitere würde dann schon der Wasserdruck erledigen. Immerhin war der aufgestaute See an seiner tiefsten Stelle inzwischen gute zwei Meter tief. Der Schweiß lief über ihr Gesicht, sie standen zunächst schon zehn Minuten in Bereitschaft, nun mühten sie sich, den Damm niederzureißen – und das alles in der prallen Mittagssonne. Was sie auch taten, der Ast bewegte sich nicht, so hatte er sich verhakt. Sie hatten scheinbar zu gut gearbeitet.
Da, es kamen bereits die ersten Eisenbahner durch den Tunnel – gleich würden sie entdeckt werden. Thorsten und Günther schauten sich an, der Augenkontakt genügte, um zu wissen, dass es jetzt Zeit sei zu verduften. Thorsten hatte seinen Posten bereits verlassen, doch Günther zögerte. Die Männer hatten sie bereits gesehen und begannen bereits zu Grölen. „So nicht“, dachte sich Günther und trat mit aller Kraft gegen den Ast. Ein bisher verkeilter Stein rollte ins Bachbett und blieb dort liegen. Die Vorhut der kurenden Eisenbahner hatte erkannt, dass sie sich in einer Gefahrensituation befanden: Gleich würde der Deich bersten und ihnen eine Flutwelle entgegenstürzen, die sicher einigen von ihnen den Spaß an der Wanderung verderben würde. Und tatsächlich, der Ast begann zu rutschten und die ganze Konstruktion bewegte sich talwärts – Zentimeter um Zentimeter. „Los, Thorsten, fass mal mit an!“ Thorsten und Günther zogen gemeinsam mit letzter Kraft an dem Ast und aufgrund ihres Ziehens löste er sich. Die Wucht war jedoch so groß, das die beiden Jungen hinfielen und sich erst orientieren mussten, bevor sie aufstanden und die Flucht ergreifen konnten.
„Aua, mein Bein.“ Günther war es egal: „Komm, wir müssen los.“ Erst dann sah er direkt in Thorstens schmerzverzerrtes Gesicht, dieser bekräftigte umgehend seine Vermutung: „Ich kann nicht, mein Bein.“ Günther umfasst seinen Freund und stützt Thorsten, gemeinsam gelingt ihnen mühsam die Flucht. Hätten nicht die hinabstürzenden Wassermassen ihre Verfolger aufgehalten, so hätten sie keine Chance gehabt. Natürlich kannten sie alle Schleichwege und machten auch nicht den Fehler, auf den Rest ihrer Bande zuzulaufen, die immer noch sicher in ihrem Versteck verharrte – inzwischen vermutlich durchaus nervös wegen der Komplikationen unten am Damm. Sie hörten da Fluchen der Männer, die inzwischen bis zu den Knien im Wasser standen – zumindest kurzzeitig. Als sie erkannten, dass ihren Freunden die Flucht gelingen würde, begannen auch sie lauthals an zu lachen. In ihrem Leichtsinn standen sie auf und hielten sich in den Armen vor Lachen. Die Männer wurden böse und wollten in ihre Richtung aufbrechen. Sie wurden jedoch von zwei Dingen aufgehalten: Von weiteren wütenden Männern, die von hinten heranstürmten und vor allem aus dem engen Tunnel entfliehen wollten sowie vom immer noch heftigen Sturzbach, der sie am Weitergehen hinderte.
Karsten, Hans und Werner, Thorsten und Günther trafen sich an ihrem Treffpunkt, nunmehr sicher vor allen Verfolgern. Das Bein sah böse aus. Karsten und Hans nahmen Thorsten in ihre Mitte, langsam gingen sie los. Sie beschlossen, Thorsten gleich zu Karstens Vater zu bringen, der als Bademeister im Mineralfreibad arbeitete. Sie gingen an der Weberei einen Schleichweg, damit sie nicht aus dummen Zufall den wütenden Kurgästen in die Arme liefen.
Werner zeigte, während Thorsten notdürftig versorgt wurde, auf den an diesem schönen Sommertag gut gefüllten Dreimeterturm: „Schaut euch das nochmal gut an!“
„Warum das denn?“, Hans war nicht immer so schnell von Begriff.
„Was denkst du denn, das was wir gerade angestellt haben, wird uns bestimmt vier Wochen Hausarrest einbringen.“
Karsten grinste: „Aber den Spaß war es wert.“
– ENDE –