Magda Thierling: Vergessene Geschichte – Jüdisches Leben in Helmarshausen und Karlshafen

Ach, Helmarshausen hat einen jüdischen Friedhof?“ Das war meine Reaktion, als ich mich mit einem Freund im Zug über die jüdische Geschichte meiner Heimatstadt unterhalten habe. Bei nächster Gelegenheit nahm ich das Fahrrad und besuchte den im jüdischen Sprachgebrauch als ‚Totenhof‘ bezeichneten Friedhof.

EPSON MFP imageAus Magda Thierlings Buch ‚Vergessene Geschichte – Jüdisches Leben in Helmarshausen und Karlshafen‘ erfuhr ich dann, dass dieses Gräberfeld bereits der zweite jüdische Friedhof auf dem Stadtgebiet von Helmarshausen ist und von 1822 bis 1936 ein kontinuierlich heftiger Streit um den ersten jüdischen Totenhof der Helmarshausens hinter der alten Stadtmauer entbrannt war. Seit 1879 dann wurden die jüdischen Mitbürger auf dem neuen Friedhof an der Gottsbürener Straße begraben. Wie durch ein Wunder haben dieser Friedhof und seine Grabsteine die Zeit des Nationalsozialismus überstanden. Die Synagoge in der im Vergleich zu Karlshafen schon immer aktiveren jüdischen Gemeinde Helmarshausens wurde zwar nicht Opfer der Pogromnacht 1938, da sie bereits im Vorfeld der jüdischen Glaubensgemeinschaft entrissen wurde.

Das Ende“ ist auch der bezeichnende Titel des Abschnitts über die Opfer der Shoah, vor allem nach dem Jahr 1941. Obgleich einigen jüdischen Mitbürgern die Flucht gelang, liest man als Todesort vieler anderer die bekannten Namen – Auschwitz, Buchenwald, Solibor … Die Schicksale sämtlicher jüdischer Mitglieder wurden sorgfältig recherchiert und nachgezeichnet.

Doch bevor die Shoah die jüdische Gemeinde beider Ortsteile vernichtete, nahmen die jüdischen Mitbürger zunächst aktiv an der wirtschaftlichen Entwicklung der Orte teil und wurden wichtige Stützen der örtlichen Ökonomie. Beispielsweise stand Simon Hohenberg 1893 mit einer Steuerleistung von 318 Mark und 41 Pfennigen an der Spitze der Steuerliste von Helmarshausen – er hatte einen ‚Manufakturwarenhandel‘.

Diese und viele andere Zeugnisse geben den geneigten Leser die Gelegenheit, das jüdische Leben der Orte Helmarshausen und Karlshafen zu erforschen – über 700 Jahre, von 1244 bis 1945. Danach ist es nicht mehr zu einem jüdischen Gemeindeleben in der heutigen Gemeinde Bad Karlshafen gekommen.

Das Buch enthält mit der gewählten Aufgabenstellung naturgemäß viele Namen, Zahlen und Fakten, daher ist es sicher mehr ein Sachbuch, als ein Lesebuch. Doch der religiös-geschichtliche Leser findet dort viele interessante Informationen, die ihn sicher dazu anregen werden, selbst aktiv zu werden und den ein oder anderen Ort jüdischer Vergangenheit aufzusuchen und sich zu erinnern. Doch ist es in meinen Augen so, dass jeder Ort ein solches Buch verdient hätte – gegen das alltägliche Vergessen.

Die Autorin war auch anwesend, als 2015 ein Gedenkstein für die Opfer der nationalsozialistischen Terrorherrschaft auf dem Waltersberg in der Nähe der Krukenburg aufgestellt wurde.

Zum Inhalt: Die Schilderung beginnt mit Belegen aus dem 16. und 17. Jahrhundert und erzählt von den jüdischen Familien im 17. und 18. Jahrhundert. Dem Kapitel über den Weg zur Gleichberechtigung im 19. Jahrhundert folgt eine Schilderung der trügerischen Hoffnungen im Kaiserreich. Anschließend wird anhand der Gemeinde Helmarshausen deren Struktur und tägliche Glaubensarbeit beschrieben. Der umfangreichste Abschnitt des Buches hat die Diskriminierung, Verfolgung, Flucht und Vernichtung der Einwohner jüdischen Glaubens zum Thema. Zum Abschluss bietet das Buch wertvolle Erläuterungen zum jüdischen Friedhof in Helmarshausen und seinen Grabsteinen, ein umfassendes Personenverzeichnis sowie ein ausführliches Literaturverzeichnis.

Thierling, Magda: Vergessene Geschichte – Jüdisches Leben in Helmarshausen und Karlshafen, Reihe „Beiträge zur Geschichte der Stadt Karlshafen und des Weser-Diemel-Gebiets, Band 17, Verlag des Antiquariats Bernhard Schäfer, Bad Karlshafen, 2011, 15,00 Euro, ISBN: 978-3-934800-15-1.

Zum gleichen Thema erschienen:

Schäfer, Bernhard (Hrsg.): Unsere jüdischen Mitbürger in Karlshafen – Austreibung und Leidensweg unter dem Naziregime, Reihe „Beiträge zur Geschichte der Stadt Karlshafen und des Weser-Diemel-Gebiets, Band 3, Verlag des Antiquariats Bernhard Schäfer, Bad Karlshafen, 1993, antiquarisch erhältlich.

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