Ein Hauch von Venedig

Zurück: Bad Karlshafen und Helmarshausen im Jahr 2018


»Wir möchten auch noch mit!« Abgehetzt hielt sich das Pärchen mit scheinbar letzter Kraft am Geländer der Hafenmauer fest, die Frau fuchtelte wie wild mit einem hellblauen Schirm.

»Tut mir leid«, sprach der bärtige Führer des Kahns in seinem langen grünen Umhang. »Kai-Uwe kommt gleich, der hat bei der nächsten Tour um ein Uhr noch zwei Plätze frei.«

Die sechs Holländer in ihrem wackelnden Untersatz hingegen grinsten zufrieden – sie hatten sich die Karten frühzeitig im Internet gesichert. Die beiden Herrschaften indes zogen wieder ab. Sicher würde ihr Weg sie in die nahegelegene Kurverwaltung führen, um wenigstens nachher bei Kai-Uwe mit an Bord sein zu können.

Der Bärtige lächelte, dann räusperte er sich und sprach mit gehobener Stimme: »Sehr geehrte Damen und Herren, es ist mir eine Freude, Sie auf unserer Stocherkahntour auf dem historischen Hafenbecken der Stadt Bad Karlshafen begrüßen zu dürfen.«

Allgemeines Nicken der Fahrgäste.

»Sie können mich auch alle gut verstehen? Of moet ik vandaag Nederlands praten?«

»Nein, nein, machen Sie Ihre Ansprache ruhig auf Deutsch, wir kommen schon viele Jahre nach Deutschland in den Urlaub.« Es war Doktor Jasper van der Kamp, Allgemeinmediziner im Ruhestand, der stellvertretend für die kleine Gruppe antwortete.

Oliver, so der Name des Bärtigen, hätte seinen Vortrag aber ohne Probleme auch auf Niederländisch halten können. Seit die Verantwortlichen in der Stadt erkannt hatten, dass die Holländer immer wichtiger für den Ort wurden, war die Beherrschung wenigstens der Grundkenntnisse dieser Fremdsprache für jeden Fremdenführer seit gut einem Jahr Pflicht. Schließlich kamen die Gäste aus dem Nachbarland immer zahlreicher in die Stadt und begannen, auch eigene Immobilien im Ort zu erwerben.

»Gut. Bevor wir beginnen, einige Sicherheitshinweise: Sie befinden sich in einem speziellen Stocherkahn, wie es sie beispielsweise in Tübingen gibt. Das Hafenbecken ist zwar nicht tief, doch möchte ich Sie in Ihrem Interesse bitten, ruhig sitzen zu bleiben.«

Er fuhr fort: »Die Tour dauert gut fünfundvierzig Minuten. Wir haben das Glück, dass fast alle wesentlichen Sehenswürdigkeiten der Stadt vom Wasser aus erreichbar sind. Und ich garantiere Ihnen, während dieser Zeit bekommen Sie von mir so viele Tipps für weitere Unternehmungen, dass Sie in den folgenden Tagen kaum mehr wissen, wann Sie Gelegenheit zum Essen finden werden.«

Ein Raunen ging durch die Zuhörerschaft.

»Aber das ist doch nur ein kleiner Ort.« Eine Frau, vermutlich zum ersten Mal in der Stadt, hatte sich zu Wort gemeldet.

»Ja, klein war der Ort schon immer. Doch dank der ›Bad-Karlshafen-Stiftung‹, des Bürgervereins, der beiden Heimatvereine und der Initiative ›Schönes Hafenareal‹ konnten wir in den letzten zwei Jahren mehr verändern, als wir je für möglich gehalten haben. Heute nutzen wir das Potenzial der Stadt, die viel zu lange im Dornröschenschlaf lag, wesentlich besser.«

»Da bin ich aber mal gespannt«, antwortete sie, trotzdem ließen das Heben der Augenbrauen und das Neigen des Kopfes deutliche Skepsis erkennen.

Oliver ging nicht weiter darauf ein, er drängte vielmehr zum Aufbruch: »Nun wollen wir aber. Schließlich möchten Sie sich sicher nicht verspäten?«

»Ich versteh nicht, zu spät zu was?«

»Die berühmte ›Seeschlacht vor der Schwaneninsel‹ – lassen Sie sich einfach überraschen.«

»Sie machen es aber sehr spannend!«

Der ›Stocherkahnkapitän‹ ignorierte auch diesen Zwischenruf und rief laut nach vorne: »Leinen los!«

Empfänger des Befehls war der kleine Ger, von Oliver ehrenhalber zum Leichtmatrosen befördert. Der Enkel von Doktor und Frau van der Kamp war sichtlich stolz darauf, die Schlaufe aus dem Haken an der sandsteinernen Hafenmauer ausfädeln zu dürfen.

»Aye, aye, Captain«, gab er eifrig zur Antwort.

Die sechs Holländer hielten sich fest, da das Gefährt heftig zu schwanken begann, als Oliver die gut fünf Meter lange Stange tief in den morastigen Hafenboden trieb und sich mit aller Kraft abdrückte.

Die Frau in der blauen Bluse ergriff etwas panisch mit beiden Händen den Rand des Kahns.

»Mevrouw, u moet niet bang zijn.« Er fuhr auf Deutsch fort: »So, dann lassen Sie uns beginnen.«

Sechs Augenpaare waren neugierig auf ihn gerichtet. Er merkte, dass sein Kopf immer noch rot anschwoll, obwohl er die Tour in den letzten drei Jahren unzählige Male erfolgreich absolviert hatte. ›Erfolgreich‹ hieß in diesem Zusammenhang, dass erstens bislang keiner seiner Gäste über Bord gegangen und er zweitens zu Beginn der Saison Anfang Mai zum ›Obersten Kahnfahrer der Stadt‹ ernannt worden war. Der Bürgermeister selbst hatte ihm das Abzeichen in einer kleinen internen Feierstunde angesteckt. Natürlich gab es Neider: Kai-Uwe, sein Kollege mit der gleichen Diensterfahrung, hatte auch auf diese Auszeichnung gehofft. Ausdruck fand dieser Ärger in den täglich sechs bis acht ›Seeschlachten vor der Schwaneninsel‹, die sich die beiden seit nunmehr drei Monaten besonders intensiv lieferten. Die Zuschauer hingegen genossen die Show, insbesondere wenn es das eine oder andere Mal auch unter die Gürtellinie ging. Gleich zu Beginn der aufkommenden Streitigkeiten hatte Olli zunächst versucht, Kai-Uwe bei einem Bier im ›Weser Garten‹ davon abzubringen, die eigentlich zur Unterhaltung gedachten Showeinlagen mit einer derartig persönlichen und krampfhaften Verbissenheit zu führen. Doch regte Ollis Ansinnen Kai-Uwe eher noch mehr auf; fast wären sie aufeinander losgegangen. Der Bürgermeister bekam Wind von der Sache und nahm sich die beiden zur Brust – seitdem klappte es besser. Die immer noch vorhandene Spannung zwischen Olli und Kai-Uwe trug jedoch nicht unwesentlich zum authentischen Erlebnis der ›Seeschlacht‹ bei.

Olli hatte gerade die Geschichte von Landgraf Carl und seinem Kanal zum Besten gegeben und ergriff die Gelegenheit, um sich nun dem Hafenareal im Besonderen zu widmen. »Der Hafen sollte das Herz des Wasserweges nach Kassel darstellen, doch leider ist es unseren Vorvätern in den vergangenen dreihundertneunzehn Jahren lediglich gelungen, ihn für die Nachwelt zu erhalten. Erst vor drei Jahren wurde eine vollständige Restaurierung der Hafenmauer abgeschlossen.«

Sie bewegten sich langsam auf die vier mal vier Meter große Plattform zu, die exakt in der Mitte des Hafens verankert war. Auf der Plattform aus Douglasienholz standen ein Tisch und sechs Stühle. Hatte es geregnet, so konnte man die ›Sieburginsel‹ – wie sie im Volksmund hieß – nicht betreten. Das Holz war nass und dadurch gefährlich glatt. Da die Sonne das hölzerne Eiland bereits längst getrocknet hatte, gab es heute keine Probleme.

»Gehen wir etwa auf die kleine Insel?«, fragte der etwas übergewichtige Mann, der direkt vor Olli ganz hinten im Kahn saß. Er hatte schon beim Einsteigen große Schwierigkeiten gehabt, auf dem schwankenden Gefährt nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Doch dank der Hilfe von Olli und Ger konnte die von Han Kogel – so sein Name – erwartete Katastrophe verhindert werden.

Als endlich alle auf der ›Sieburginsel‹ angelandet waren, bat Olli sie, auf den schweren, weißen Metallstühlen Platz zu nehmen.

»Jetzt fehlt nur noch der Pavillon unter einer großen Eiche, da gehören die Stühle eigentlich hin«, bemerkte Doktor van der Kamp.

Olli stellte sich auf die in Richtung evangelische Kirche gelegene Seite der Insel. »An dieser Stelle, die bislang nur in kalten Wintern und auf Schlittschuhen zugänglich war, befinden Sie sich im Herzen der Barockstadt Bad Karlshafen, sozusagen im Zentrum des Zentrums.«

Er machte eine kurze Pause und trank einen Schluck aus seiner Feldflasche mit dem Hugenottenpaar auf dem Etikett – eines der vielen Merchandisingprodukte, die in den letzten Jahren entwickelt worden und auf den Markt gekommen waren. Man konnte sie in der Kur- und Touristikverwaltung kaufen, aber auch am Kiosk vor der Weinhandlung Römer. Dieser war – errichtet von einheimischen Handwerkern im Jugendstil – das erste Bauwerk aus den Mitteln der ›Bad-Karlshafen-Stiftung‹.

Olli machte eine den ganzen Hafen umfassende Handbewegung, die Gäste folgten seinen Händen. »Was Sie hier sehen, sind eine Realschule, eine Drehbrücke, eine Volksschule, eine Zigarrenfabrik, eine hugenottische Weinhandlung, ein Oberforsthaus, ein Lazarett, ein Zollhaus, ein Lagerhaus mit vorgelagertem Wiegehäuschen und das älteste Gebäude der Stadt – das in diesem Jahr den dreihundertneunzehnten Geburtstag feiert.«

Er blickte zu seinem Assistenten: »Ger, ich hab’s nicht so mit der Mathematik: Wann wurde der Ort also begründet?«

Ger war überrascht, auf diese Weise angesprochen zu werden. Doch Olli wusste aus zuverlässiger Quelle, dass Ger ein guter Schüler war, vor allem in Mathematik.

»1699!«

»Genau, Ger, klasse!«

»1999 hat Bad Karlshafen seinen dreihundertsten Geburtstag gefeiert, das war also vor neunzehn Jahren. Lief es in den letzten zwei Jahrzehnten wirtschaftlich nicht so gut für den Ort, hat er sich nun wieder aufgerappelt. Nach einem großen Streit in der Stadt zwischen den Befürwortern und Gegnern einer Hafenöffnung haben die Bürger das Heft selbst in die Hand genommen und angefangen, beispielsweise das Hafenareal in Eigeninitiative selbst zu gestalten.«

Doktor van der Kamp hob die Hand, anscheinend hatte er eine Frage.

»Bitte, der Herr.«

»Wie ist das nun mit der Drehbrücke und dem Forsthaus?«

»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich abschweife. Aber uns Bürgern steckt die Zeit der Teilung der Stadt in diese zwei Lager noch furchtbar in den Knochen.« Er holte tief Luft. »Fast alle dieser von mir genannten Gebäude und Bauwerke gibt es heute nicht mehr. Aber gerade von diesem Platz aus kann ich Ihnen am besten erklären, wie die Stadt früher einmal ausgesehen hat. Beginnen wir also am besten mit den beiden erwähnten Schulen.«

Die zwölf Augen folgten Ollis Hand, als er in Richtung der einzigen Ampel des Ortes wies. »Dort, genau an der Ecke, befand sich das erste Schulgebäude der Stadt.«

Schweißperlen liefen über Ollis Stirn, die Sonne brannte. Aber sein Vortrag war lange noch nicht zu Ende. Es war nicht einfach, in fünfzehn Minuten die komplette Geschichte all der aufgezählten Gebäude zum Besten zu geben.

Er schloss seine Rede mit: »Der Gasthof ›Zum Landgraf Carl‹ ist das älteste Haus der Stadt und mit dem ›Weinhaus Römer‹ das Einzige, das immer noch seiner ursprünglichen Bestimmung folgt. Alles andere ist Vergangenheit.« Er ging zum Stocherkahn und machte eine einladende Handbewegung: »Gehen Sie nun bitte wieder an Bord.«

Die Gäste folgten seinem Aufruf; diesmal klappte es ohne Murren und ohne Probleme.

Olli wusste, dass nun für die Gäste der Höhepunkt der Tour kurz bevorstand: die ›Seeschlacht vor der Schwaneninsel‹. Olli hatte den verabredeten Treffpunkt fast erreicht, als Kai-Uwe mit seinen nur fünf Besatzungsmitgliedern unter der Teufelsbrücke hindurchfuhr. In zwei Minuten würde es so weit sein und die Schlacht würde beginnen.

Er beobachtete seinen ungefähr vierzig Meter weit entfernten Gegner genau: Kai-Uwe hatte bereits mit dem angefangen, was er bislang versäumt hatte: Seine ›Truppen‹ zu sammeln und sie auf den bevorstehenden Kampf einzuschwören. Doch irgendwie hatte Olli heute keine Lust dazu. Auf der anderen Seite hätte er in dem Wortgefecht nicht die geringste Chance, bekäme er nicht Unterstützung durch seine ›Crew‹.

Aber es war zu spät, inzwischen hatte sich der Feind bereits bis auf gut zehn Meter genähert.

»Hey da, was sucht Er da in meinem Revier?«

Olli musste antworten: »Seinem Revier, was bildet Er sich ein?«

Im Folgenden ging es um die jeweils »Armen Klabautermänner« im anderen Kahn, das »Haifutter auf dem heruntergekommenen Seelenverkäufer«, den bevorstehenden »Transport nach Amerika« und die Beleidigung der jeweils anderen Ehefrau beziehungsweise Lebensgefährtin.

Oben an der Hafenmauer hatten sich bereits ein paar Schaulustige versammelt, die bei jedem verbalen Ausbruch begeistert applaudierten. Da gerade Schulschluss war, waren auch einige Schüler darunter. Kein Wunder, eine Schulstunde war wenige Minuten zuvor zu Ende gegangen und sie befanden sich auf dem Heimweg. Zwar kannten sie das Spektakel schon, aber war es doch jedes Mal wieder ein Spaß!

Kai-Uwe forderte seine Gäste auf, »den jämmerlichen Kahn zu entern« und die »erbärmlichen Gestalten zu shanghaien«.

Olli hielt dagegen: »Du wirst dich mit deinem elenden Seelenverkäufer sogar auf diesem kleinen Hafen verirren« und nannte ihn »Käpt’n Iglo auf großer Fahrt«.

Aber schon bald brauchten sich Kai-Uwe und Olli nur noch zurückzulehnen und die Früchte zu ernten, die sie gesät hatten: Nach den einleitenden Beschimpfungen fielen die Mannschaften beider Kähne mit Inbrunst übereinander her – umso mehr, als dass es der Zufall so wollte, dass es sich um einen rein niederländischen und einen rein deutschen Kahn handelte.

Olli und Kai-Uwe schauten sich das Schauspiel einige Minuten an. Gerade bevor ein Gast der ›deutschen Crew‹ den ›niederländischen Schiffsjungen‹ Ger mit seinem riesigen Regenschirm aufspießen konnte, beendete Kai-Uwe das ›Gemetzel‹: »Schluss für heute, gerade bekommen wir die hochherrschaftliche Ordre, dass unsere Admirale nun Verbündete sind und dass wir all unsere Kräfte bündeln müssen – im Kampf gegen die Piraten aus Beverungen. Also, es sei Frieden im Sinne der Völkerverständigung!«

Die beiden ›Kapitäne‹ kannten die nun folgenden Reaktionen: Hatten sich die Gäste gerade schön warm geschimpft, so mussten sie nun Frieden schließen. Olli und Kai-Uwe kannten das laute »Ohhh!« und die Enttäuschung in den Gesichtern bereits zu Genüge. Jeweils ein Mitglied der Besatzung wurde auserwählt, um als Parlamentär per Handschlag symbolisch Frieden zu schließen. Auf Seiten des ›deutschen Kahns‹ war es die junge Mutter mit dem Bubikopf, die niederländische Friedensstifterin war die immer elegant gekleidete Frau van der Kamp.

Die beiden Kähne entfernten sich voneinander und wie immer gab es zwischen den Gästen jedes Kahns eine feurige Diskussion: »Wir hätten sie alle in Grund und Boden geredet!« oder »Die hatten doch nicht den Hauch einer Chance!«

Sie fuhren an dem mit einer Leine abgegrenzten Bereich der Schwaneninsel entlang.

Olli begann zu erzählen: »Obwohl der Hafen nun befahren werden darf, haben die Tiere auf der Schwaneninsel ihr eigenes Rückzugsgebiet. Früher hatten wir hier auch Schwäne im Becken, doch seit dem Bootsbetrieb haben sie sich leider ein anderes Revier gesucht. Lediglich im Frühjahr und im Herbst lassen sie sich ab und zu im Hafen sehen.

In dem Moment, als Olli sich mit seinem Kahn genau auf der direkten Linie zwischen Rathaus und evangelischer Kirche befand, forderte er seine Gäste auf, ihren Blick nach oben zu richten – senkrecht nach oben.

»Sehr verehrte Damen und Herren, was sehen Sie?«

Fragende Blicke wechselten zwischen dem kleinen Stück blauen Himmels direkt über ihnen und dem Fremdenführer hinten in ihrem Kahn hin und her.

»Nichts –was sollen wir denn sehen?« Ger war zwar gut in Mathematik, hier hatte er aber auch keine Idee.

Olli wusste, dass er die Spannung sogleich auflösen musste: »Es war Anfang der Achtziger Jahre, als genau über uns ein Drahtseil zwischen dem Rathausturm und dem Kirchturm der evangelischen Kirche gespannt wurde und ein Seiltänzer über das Seil lief – hoch über dem Hafenplatz.«

Erstaunte Gäste fingen an, miteinander zu debattieren: »Geht denn das?« – und – »Ist das denn nicht viel zu gefährlich?«

Olli ließ die Gruppe einen Moment diskutieren, während er den Kahn weiter in Richtung Teufelsbrücke stak. Dann unterbrach er die lebhafte Diskussion und erläuterte die Geschichte.

»Ja, es war ein junger Seiltänzer, der dort oben über das Seil lief. Kunststücke machte er keine, doch lief er mit seiner langen Stange vom Rathaus kommend hoch über der Stadt in Richtung Kirche. Das war vielleicht ein Menschenauflauf hier im Ort!«

»Haben Sie es auch gesehen?«, fragte Doktor van der Kamp.

»Nein, leider nicht. Ich habe damals noch als Bademeister im ehemaligen Mineralfreibad gearbeitet. Ich wäre mit Freude dabei gewesen, doch bedauerlicherweise hatte ich keine Gelegenheit, meinen Dienst zu tauschen.«

Olli sah das Bedauern in den Gesichtern der Menschen. Wenn sie es schon nicht selbst miterleben konnten, hätten sie wenigstens gerne jemanden gekannt, der das Ganze mit seinen eigenen Augen gesehen hatte.

Ein Schatten kroch über den Kahn, als sie die kleine Fußgängerbrücke erreichen, die über den Kanal führte.

»Diese kleine Brücke hier hat eine wichtige Funktion für die Menschen, die sich in der Innenstadt bewegen. Stellen Sie sich mal vor, Sie wollen vom Café Sieburg zum Hotel ›Zum Schwan‹ laufen, um dort Ihr Drei-Gänge-Menü einzunehmen. Wenn Sie den Weg über die Teufelsbrücke nehmen, haben Sie Ihr Ziel in weniger als zwei Minuten erreicht. Vor fünf Jahren, als die Hafenmauer aufwendig saniert wurde, war auch die Brücke demontiert. Damals musste jeder, der den beschriebenen Weg gehen wollte, an der Rosenapotheke vorbei über die Lazarettbrücke in die Conradistraße einbiegen, um am Antiquariat Schäfer vorbei zum Hotel ›Zum Schwan‹ zu gelangen.«

Die Frau in der blauen Bluse hob ihren Arm, »Und warum heißt diese Brücke ›Teufelsbrücke‹?«

Olli wusste, dass diese Frage gestellt werden würde. Hieße die Brücke ›Brückle‹, ›Bismarck-Brücke‹ oder gar ›Erwin-Menke-Brücke‹, so hätte ihr Name keinerlei Interesse hervorgerufen. ›Brückle‹ war klar, der Name ›Bismarck‹ war selbst jedem Niederländer bekannt und für ›Erwin Menke‹ hätte sich mit Verlaub kein Schwein interessiert. Die Kollegen hatten im Rahmen einer Weihnachtsfeier und nach dem einen oder anderen Glas Rotwein überlegt, wie diese kleine Brücke zu ihrem Namen gekommen sein könnte. Kai-Uwe hatte den Vorschlag gemacht zu verbreiten, dass schon mehrfach Quartalssäufer über das Geländer in das kalte Wasser des Hafens gefallen seien und dass sich der Teufel gezielt die Säuferseelen holen würde, wenn sie über die Brücke schwankten. Hermann, ein inzwischen im Ruhestand befindlicher Kollege, hatte den Namen darauf zurückgeführt, dass jeder Sünder, der über diese Brücke ging, nicht im Himmel, sondern in der Hölle landete. Olli hingegen hatte sich seine eigene Geschichte ausgedacht. In ihr hatte ein Schulmeister früherer Jahre mit dem Teufel gewettet, dass seine Schüler nicht über die Brücke gehen würden, egal mit was der Teufel sie lockte. Durch eine List gewann der Schulmeister die Wette, gestand dem in Selbstmitleid verfallenen armen Teufel jedoch zum Trost zu, dass die Brücke fortan seinen Namen tragen durfte.

Olli überlegte kurz, welche der drei Geschichten er seinen Gästen heute auftischen wollte. Die ›Schulgeschichte‹ sollte es sein und so begann er zu erzählen.

Die Frau in der blauen Bluse blieb einen Moment still, doch bevor sie etwas sagen konnte, legte der neben ihr sitzende Ehemann los: »Das ist doch unmöglich.«

Eine kurze Pause: »Wie können Sie uns so eine Geschichte erzählen?«

»Nur ruhig, meine Damen und Herren.« Olli sprach bewusst nicht weiter, um ihre Aufmerksamkeit zu erhalten. »Wie Sie wissen, befinden wir uns hier im Märchenland der Brüder Grimm, die Sie ja sicherlich alle kennen.«

Allgemeines Nicken: Selbstverständlich kannten alle hier Grimms Märchen.

Olli holte tief Luft und fuhr fort. »Und warum sollte es nicht auch eine Geschichte mit dem Teufel geben, wenn Sie fraglos den Märchen um den Fischer und seine Frau, Rotkäppchen und Frau Holle Glauben schenken?«

»So gesehen haben Sie natürlich recht!« Der Wortführer der Protestbewegung setzte sich wieder bequem zurück, hatte er sich zuvor doch weit nach vorne gebeugt, um seinen Worten mehr Gewicht zu geben.

»Mein Kollege Christoph Schüler hätte Ihnen vermutlich erzählt, dass der frühere Stadtverordnete Siegmund Teufel sich im Rat der Stadt vehement für die Errichtung der Fußgängerbrücke eingesetzt hat. Doch diesen Siegmund Teufel gab es nie. Die Wahrheit ist, dass wir nicht wissen, woher die Brücke ihren Namen bekommen hat.« Olli sah in jedes der sechs Gesichter. Er wusste nun, dass sie die Erklärung akzeptiert und auch verstanden hatten, dass es die Aufgabe der Stadtführer war, ihre Geschichten interessanter zu machen. Wichtig war nur, dass man die Gäste nicht mit einer faustdicken Lügengeschichte zurück nach Hause schickte.

Olli fuhr mit seinen Ausführungen fort – sie waren bereits etwas unter Zeitdruck. »Dieser kleine Kanal sollte den Hafen mit der Diemel verbinden. Wir fahren jetzt bis zur Lazarettbrücke, dort ist der Scheitelpunkt unserer Tour und wir müssen wieder zurückfahren. Aber bis dahin kann ich Ihnen noch einige interessante Dinge über das Hotel ›Zum Schwan‹ und vor allem das Invalidenhaus erzählen.«

Gespannt lauschten die Mitfahrer den Worten über das Invalidenhaus. Doch noch mehr interessierte sie die Geschichte des Hotels ›Zum Schwan‹, das sich durch die Initiative von Carl Daniel Stunz von einer einfachen Gastwirtschaft zu einem mondänen Hotel für die gehobene Gesellschaft entwickelt hatte. Die ihnen im Rücken befindliche älteste Apotheke im Ort – die Rosenapotheke aus dem Jahr 1750 – nahmen sie nur noch als Randnotiz wahr.

Olli hatte mit seiner Besatzung bereits wieder das große Hafenbecken erreicht, da richtete er – wie immer – die Frage an seine Gäste: »So, nun sollten wir die kommenden Minuten noch für Fragen nutzen. Was möchten Sie also noch wissen?«

Olli wusste nie, was da jetzt auf ihn zukommen würde. Meist konnte er sich nicht retten vor Fragen: Geschichtliches oder wann der Turm der Kirche das letzte Mal gestrichen wurde, wie man zum Hugenottenturm kam oder wo man in der Stadt am besten ein Glas Wein trinken könne – all diese Fragen konnte er beantworten. Schwieriger wurde es, wenn die Leute sich für die politische Situation der Stadt interessierten oder sich darüber monierten, dass es in der Kernstadt keinen Supermarkt gab. Da musste er vorsichtig sein, dass er nichts Falsches sagte.

Die Wunden dieses fürchterlichen Streits, der in den letzten Jahren über die weitere Entwicklung geführt worden war, waren vielleicht nicht mehr offen, aber lange noch nicht verheilt. Der Bürgermeister legte daher höchsten Wert auf Loyalität ihm und der Stadt gegenüber. Er hatte aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und erkannt, dass es wichtiger ist, gemeinsam die Zukunft in die Hand zu nehmen, als brachial an den Bürgern vorbei seine Vorstellungen durchzusetzen.

Wie so oft antwortete Olli also ausweichend. Er hatte – genauso wie Kai-Uwe – sich mit der Zeit ein gewisses diplomatisches Geschick angeeignet, wie sie derartige Situationen meistern und die rauesten Klippen der örtlichen Befindlichkeiten umschiffen konnten.

Heute hatten die Leute zumeist harmlose Fragen. Beispielsweise interessierte sich Frau van der Kamp dafür, was denn Hermann Löns mit Bad Karlshafen zu tun hätte, schließlich habe sie auf einem Stadtplan einen ›Hermann-Löns-Platz‹ entdeckt.

Olli beantwortete die Frage souverän: »Wir haben es dem Heimatverein zu verdanken, dass der in einen Dornröschenschlaf gefallene Platz wiederentdeckt und auch wiederhergerichtet wurde. Seinerzeit wurde Kontakt mit der Hermann-Löns-Gesellschaft aufgenommen. Hier sollte in Erfahrung gebracht werden, ob der ›Heidedichter‹ selbst einmal im Ort war oder in dessen Wäldern auf die Jagd gegangen ist. Hermann Löns war nämlich ein leidenschaftlicher Jäger. Leider konnte seine Anwesenheit nie restlos bestätigt werden.«

Wie immer, wenn es um den ›Heidedichter‹ ging, war es ihm wichtig, auch noch eine Anmerkung zu Löns‘ rassentheoretischen Ansichten zu verlieren. Hier wusste er, dass er nicht unbedingt im Einvernehmen mit der Stadtverwaltung und dem Heimatverein handelte. Olli, kein Freund rechtspopulistischer Gruppierungen, ging es in dieser Frage allein ums Prinzip. Geschadet hat es ihm bislang glücklicherweise noch nicht.

Er schaute in die Runde: »Gibt es noch weitere Fragen?«

Die Leute schüttelten den Kopf oder waren bereits in Gespräche vertieft.

»Gut. Dürfte ich Sie dann noch einmal um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«

Die Unterhaltung verstummte.

»Wir sind nun am Ende unserer Tour angelangt und ich hoffe, es hat Ihnen gefallen. Mir auf jeden Fall hat es Spaß gemacht, Ihr Stocherkahnkapitän sein zu dürfen. Wir hoffen, Sie bald noch einmal auf einer unserer Touren begrüßen zu dürfen.«

Die Frau mit der blauen Bluse hob ihren Arm.

»Ja, bitte«, sprach Olli sie an.

»Warum gibt es diese Tour nicht auch regelmäßig auf Niederländisch? Ich würde das nächste Mal gerne mal meine Mutter mitbringen.«

»Derzeit bieten wir so etwas noch nicht an, das ist richtig. Aber wir stehen in guten Kontakt mit unserer Partnerstadt Gravenzande, um sprachliche Unterstützung zu erhalten und gegebenenfalls niederländischsprachige Führungen anbieten zu können. Haben Sie noch ein wenig Geduld, dann wird es diese Touren geben. Wie Sie vermutlich wissen, gibt es bereits einmal in der Woche eine niederländische Stadtführung, geleitet von meinem Kollegen Christoph Schüler. Sollten Ihre Deutschkenntnisse ausreichen, so kann ich Ihnen die verschiedenen Stadtspaziergänge empfehlen. Wir haben eine Stadtführung zum Thema ›Carlsbahn‹ oder die Drehortführung zum Film ›Der Winter, der ein Sommer war‹. Auch möchte ich Ihnen die sogenannte ›Brückentour‹ ans Herz legen. Vielleicht erzählt Ihnen der Christoph dann auch noch eine ganz andere Geschichte über die ›Teufelsbrücke‹.«

Zufrieden gingen die Gäste von Bord. Die nächsten sechs Passagiere warteten schon ungeduldig auf ihr Abenteuer.

»Empfehlen Sie uns bitte weiter!«, rief Olli ihnen noch hinterher.

Die Anzahl an Voranmeldungen für die Stocherkahntouren auf dem Hafen, das wusste er, machten diese Bitte eigentlich überflüssig.

 – Ende –


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