Mord und Totschlag im Café Größenwahn

2019 – drei Jahre sind seit dem Entscheid zur Hafenöffnung vergangen.

Gespräch des ›Kulturblättchens‹ mit Sylvia Radeberg, der Erfinderin und Initiatorin des Krimilesecafés ›Mord und Totschlag‹ und Dieter Kern, Besitzer des Café Größenwahns.

Auszug aus „Bad Karlshafen 2.0 – Visionäres Kopfkino für die nördlichste Stadt Hessens“.


Von Stephanie Bertram

›Es herrschen Mord und Totschlag im Café Größenwahn!‹ – wie einstmals Steckbriefe hängen diese Verlautbarungen aktuell gefühlt an jeder dritten Hauswand. Die blutroten Zettel mit den großen weißen Lettern sind bereits von Weitem gut zu erkennen. Dieses in der ersten Wahrnehmung ebenso plakative wie auch beunruhigende Statement entpuppt sich jedoch auf den zweiten Blick als ein wesentlich zahmeres Ansinnen: Gibt es mit dem ›Literarischen Teekränzchen‹ einen Lesekreis, der vor allem bei älteren Damen Anklang findet und der mit dem ›Literarischen High Tea‹ sogar eine Abendveranstaltung ins Leben rufen konnte, so fehlte noch eine Gruppe für jüngere Leser sowie für Leser, die sich nicht nur mit anspruchsvoller Literatur befassen wollen. Daher traten einige Krimifans an das Café Größenwahn heran, um ein Krimi-Lesecafé ins Leben zu rufen. So kam es zu ›Mord und Totschlag im Café Größenwahn‹.

Das ›Kulturblättchen‹ (KB) hatte die Gelegenheit, mit Sylvia Radeberg, der Erfinderin und Initiatorin von ›Mord und Totschlag‹, sowie mit Dieter Kern, Besitzer des Cafés, zu sprechen.

KB: »Frau Radeberg, ist es nicht etwas gewagt, zu ›Mord und Totschlag im Café Größenwahn‹ aufzurufen? Ist Ihr nächstes Projekt vielleicht ›Plündert den Supermarkt!‹?«

Sylvia Radeberg (lacht): »Nein, bestimmt nicht. Doch auch wenn sich das Café Größenwahn derzeit einer großen Beliebtheit erfreut – es geht immer noch nichts über plakative Werbung.«

KB: »Wohl wahr. Doch was lesen Sie, was werden Sie lesen?«

Sylvia Radeberg: »Um hier noch einmal einen alten Bond-Titel zu strapazieren: Es geht eher um ›Lesen und Lesen lassen‹. Wie bei der Lesegruppe ›Belletristik‹ sowie dem sich in Vorbereitung befindlichen ›Fantasy-Kreis‹ ist es so, dass sich die Mitglieder der Gruppe die Titel aussuchen. Wir lesen in der Gruppe alles, vom Fitzek-Thriller bis zum Neuschwanstein-Krimi. Heute hat jeder kleine Ort und jede Region ihren Regionalkrimi, daher wird uns der Lesestoff sicher so schnell nicht ausgehen.«

KB: »Auch regionale Autoren wie Christian Schneider und Christiane Höhmann?«

Radeberg: »Ja, gerade Autoren aus der Gegend sind immer wieder einmal im Programm.«

KB: »Herr Kern, Sie haben nichts gegen ›Mord und Totschlag im Café Größenwahn?‹«

Kern: »Solange er sich nur in den Köpfen der Leser abspielt – nein.«

KB: »Gut, die Menschen lesen diese Bücher. Doch warum denken Sie, dass sie auch über diese Dinge sprechen wollen?«

Radeberg: »Aus zweierlei Gründen: Erstens regt es die Fantasie an, die zum Teil grausamen Handlungen nicht nur im eigenen Kopfkino ablaufen zu lassen, sondern diese Erfahrungen auch noch mit anderen Leuten auszutauschen. Zweitens wird es ganz sicher so sein, dass die Teilnehmer sich gegenseitig befruchten und neue Ideen bekommen.«

KB: »Sie sprechen jetzt aber nicht vom perfekten Mord?«

Radeberg (lacht abermals): »Nein, natürlich nicht. Aber in Gedanken zu morden, ist schließlich nicht strafbar. Ich frage Sie: Wann hätten Sie zum letzten Mal gerne einmal jemanden an die Wand geklatscht?«

KB: »Ähm. Sie haben recht, das ist gar nicht so lange her.«

Kern: »Bei mir war es erst gestern.«

Radeberg: »Jemanden, den ich kenne?«

Kern: »Bald vielleicht nicht mehr«, (räuspert sich), »aber keine Angst, iss nur Spaß.«

KB: »Dann ist ja gut, darüber macht man eigentlich keine Witze.«

Kern: »Stimmt, aber was denken Sie, warum wir manchmal so schlecht träumen – weil wir alle Gutmenschen sind?«

KB: »Werden Sie, Herr Kern, sich beteiligen? Wenn ich Sie so höre – durchaus mit dem Ziel einer therapeutischen Behandlung?«

Kern: »Das ist zweifellos möglich. Schon heute bin ich ab und zu dabei – vor allem, wenn mich ein Buch besonders interessiert.«

KB: »Zurück zum Krimi-Lesecafé: Frau Radeberg, meinen Sie denn, dass es auf längere Sicht ausreichend Leserinnen und Leser geben wird, die sich die Zeit nehmen, ihre gelesenen Bücher in einer Gruppe zu besprechen?«

»Das denke ich schon. Zumal Sie gar nicht glauben, was für blutrünstige Dinge die Menschen hinter ihrer verschlossenen Schlafzimmergardine so lesen.«

KB: »Ich muss immer noch an die Aussage von Herrn Kern denken. Kann es nicht sein, dass sich Menschen das Gelesene zum Vorbild nehmen, ihre Gegner selbst zu richten?«

Radeberg: »Das ist nun doch etwas weit hergeholt.«

Kern: »Das finde ich auch. Sie haben doch sicher Harry Potter gelesen?«

KB: »Ja.«

Kern: »Und sich mit der Hauptfigur identifiziert?«

KB: »Sicher.«

Kern: »Wie viele Dementoren und Todesser hat der gute Harry wohl insgesamt getötet, bevor er Voldemort erledigt hat?«

KB: »Einige.«

Kern: »Sehen sie, die Menschen sind tief in ihrem Innern recht primitiv, daher haben Einrichtungen wie das Krimi-Lesecafé mehr und mehr Zulauf.«

KB: »Sie denken also nicht, dass Leser im wahrsten Sinne des Wortes Blut riechen und die Lunte zu brennen beginnt?«

Radeberg: »Ich will Dieter Kern hier mal zur Seite springen. Würde man so argumentieren, so dürfte man im Fernsehen nur noch ›Teletubbies‹ zeigen. Und vermutlich noch nicht mal die. Ich gebe Ihnen natürlich recht, dass Bücher auch töten können. Der Mörder von John Lennon hat später erklärt, dass er im Buch ›Der Fänger im Roggen‹ von J. D. Salinger die Aufforderung gelesen habe, eine Berühmtheit töten zu müssen, um selber berühmt zu werden.«

Kern: »Ein extremes, aber trauriges Beispiel.«

KB: »Kommen wir noch einmal auf den Austausch zwischen den Lesern zurück. Warum treffen sich Menschen in Lesegruppen?«

Radeberg: »Die Menschen suchen Gedankenaustausch in Sachen Lesestoff. Hier treffen sie auf Gleichgesinnte, die ähnliche Interessen und gleiche Veranlagungen teilen. Typen, die auch bereit sind, ihre Wohlfühlzone zu verlassen, um in sehr unangenehme Situationen einzutauchen. ›Kopfkino‹ ist hier das Schlagwort.«

KB: »Es geht also um gehobenen Voyeurismus?«

Radeberg: »Wenn man es so einfach ausdrücken will – ja – und ich gebe Ihnen auch gerne ein Beispiel: Würde es eine neue Krimiserie im hr-Fernsehen geben, die den Namen ›Pathologie Hofgeismar‹ trüge und qualitativ gut wäre, glauben Sie mir, die Leute würden sich das anschauen.«

KB: »Wirklich?«

Radeberg: »Ja, und sie würden sogar am nächsten Morgen im Büro darüber reden.«

Kern: »Es gibt in diesem Zusammenhang ein passendes Zitat, doch glaube ich kaum, dass viele wissen, wer es gesagt hat.«

KB: »Sie machen mich neugierig.«

Kern: »Das Zitat lautet: ›Ich kann mir kein Verbrechen vorstellen, das nicht auch ich hätte begehen können!‹«

KB: »Keine Idee.«

Kern: »Dieses Zitat stammt nicht von irgendeinem Serienfrauenmörder des vergangenen Jahrhunderts, es stammt von dem über alle Dinge erhabenen Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe – Deutschlands wohl größtem Dichter.«

KB: »Was?«

Radeberg: »Ja, da staunen Sie! Und wenn so ein kluger Mann das sagt, was soll da erst im einfachen Mann von der Straße vorgehen? Das ist einer der Gründe, warum Menschen in Krimi-Lesecafés gehen.«

KB: »Ich sehe, Sie beide sind ein eingespieltes Team – die literarischen ›Bonnie und Clyde‹?«

Kern (schaut Radeberg an): »Wenn Ihnen das gefällt. Der Slogan ist sicher nicht schlecht fürs Geschäft.«

KB: »Das lasse ich jetzt einfach mal so stehen. Kommen wir also noch mal zur Location, dem Café Größenwahn. Warum gerade hier?«

Kern: »Es hat vor Jahren bereits einmal den Versuch gegeben, ein Literaturcafé im Ort zu betreiben. Das ›Café Hugo‹ lief eine gewisse Zeit, es hatte eine sehr engagierte Betreiberin und vor allem auch eine tolle Inneneinrichtung: Das Café war voller Bücher. Immer wenn ich in Karlshafen war, bin ich gerne dorthin gegangen, habe meinen Tee getrunken und mir ein Buch genommen und angefangen, es zu lesen. Dann haben die Instandsetzungsarbeiten an der Hafenmauer begonnen und ohne den Terrassenbetrieb konnte man das Café nicht wirtschaftlich betreiben. Vielleicht waren die Menschen im Ort damals auch noch nicht bereit für ein literarisches Café.«

KB: »Denken Sie, dass in einem Ort, in dem sich wegen der Hafenöffnung fast ein Bürgerkrieg entfacht hatte, die Menschen nun, da sich das Klima wieder beruhigt hat, die Muße haben, sich den schönen Dingen des Lebens, wie der Literatur, zuzuwenden?«

Radeberg: »Ja, da bin ich mir sicher. Man muss das Angebot nur ausreichend bekannt machen und die Veranstaltungszeit günstig auswählen.«

KB: »Noch einmal: Der Ort hat keine Bücherei, die Menschen müssen sich all ihre Bücher kaufen. Wo sollen sie das denn tun?«

Radeberg: »Sie haben recht, wer etwas braucht, bestellt es sich heutzutage im Internet. Doch haben wir noch immer zwei Geschäfte im Ort, in denen man Bücher kaufen oder zumindest bestellen kann. Wir streben an, die benötigten Bücher gesammelt im örtlichen Buchhandel zu bestellen, um die Wirtschaftskraft des Ortes zu stärken.«

KB: »Wo genau finden ›Mord und Totschlag‹ statt?«

Kern: »Im ersten Stock des Cafés.«

KB: »Im Schwimmerbecken?«

Radeberg: »Ja, so nennt man es wohl.«

KB: »Wie kommt die Etage zu diesem Namen?«

Kern: »Sie stammt vom Original-Größenwahn des Berlins des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts. Es ist ein Spleen von mir, ich habe viel darüber gelesen und auch in der Bibliothek des ›Vereins für die Geschichte Berlins‹ zum Thema recherchiert.«

KB: »Die Bezeichnung ›Größenwahn‹ hat aber nichts mit dem Hafenöffnungsprojekt der Stadt zu tun?

Kern: »Von mir aus nicht, obwohl das beinahe nahe liegen würde. Ich will einige der Gepflogenheiten und die Spleens des einstigen Cafés, das ja eigentlich ›Café des Westens‹ hieß, wieder aufleben lassen. Ich verspreche mir dadurch, eine ganz bestimmte Sorte Menschen anzuziehen.«

KB: »Die mit einem Spleen?«

Kern: »Das haben Sie gesagt. Ich würde eher die ansprechen wollen, die etwas Besonderes erleben möchten und die vielleicht die Nase gerne etwas höher tragen. Wann kann man denn schon einmal die Treppe hinaufsteigen und ›geheime Räume‹ betreten, während andere im Erdgeschoss die zugegeben gleiche Gulaschsuppe löffeln?«

KB: »Schickimicki, Boheme?«

Kern: »Vielleicht ein wenig.«

KB: »Hier an der Oberweser? Ist das nicht sehr gewagt?«

Kern: »Vermutlich schon, es hat aber auch noch nie jemand probiert. Schließlich kommen die Leute auch von überall hierher, um in die Weserbergland-Therme zu gehen oder den Konzerten der Musikschule im Landgrafensaal zu lauschen.«

KB: »Und warum sitzen dann die ›normalen Irren‹, die nur im Schlafzimmer blutrünstige Geschichten lesen, im ›Schwimmerbecken‹?«

Kern: »Vor allem, weil es oben einen abgetrennten Bereich gibt, in dem sie sich ungestört ihren Gelüsten hingeben können.«

KB: »Erlauben Sie mir zum Abschluss noch ein paar persönliche Fragen zu ihren Lesegewohnheiten.«

Radeberg: »Bitte.«

KB: »Wie viele Bücher besitzen Sie?«

Radeberg: »Vier große Regale voll.«

Kern: »Alle, die hier stehen.«

KB: »Buch oder eReader?«

Radeberg: »Buch, doch mein Mann schimpft andauernd über die ständig neuen Bücher. Daher wird sich ein eReader nicht vermeiden lassen.«

Kern: »Ganz klar: Buch.«

KB: »Ihre Meinung zu ebook-Flatrates?«

Radeberg: »Für Vielleser leider unschlagbar.«

Kern: »Kein Kommentar.«

»Frau Radeberg, Herr Kern, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.«

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Auszug aus „Bad Karlshafen 2.0 – Visionäres Kopfkino für die nördlichste Stadt Hessens“.

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